top of page

„RESILIENZ IST IN JEDEM VON UNS ANGELEGT“

Updated: Feb 22, 2022

Die Resilienz-Expertin Karin Pahl im Interview mit Julia Duwe über Stabilität und Flexibilität im Führungsalltag. Ein Auszug aus dem Fachbuch Beidhändige Führung.

Karin Pahl im Interview mit Julia Duwe, Beidhändige Führung
Foto: Karin Pahl

Mit neuen, unbekannten Einwirkungen von außen steigt der Anspruch an Führungskräfte in Krisenzeiten exponentiell. Wie sie stabil und zugleich flexibel durch stürmische Zeiten navigieren, erklärt die Bremer Resilienz-Expertin Karin Pahl im Gespräch Ende April 2020.

 

JD: Karin Pahl, Sie sind seit vielen Jahren in Unternehmen als Coach und Trainerin tätig und haben sich auf das Gebiet der Resilienz spezialisiert. Können Sie kurz den Begriff erklären?

KP: Der Begriff der Resilienz stammt aus dem Lateinischen (resilire) und steht sinngemäß für „Innere Widerstandskraft“. Er ist auch aus der Physik und der Werkstoffkunde bekannt. Sprich: Eine Einwirkung von außen trifft auf ein Material, nehmen wir einen Gummiball oder vielleicht bildhafter ein Sofa im Wohnzimmer. Das Material ist nach jeglicher Einwirkung von außen in der Lage, wieder in den Ursprungszustand zurückzugehen. Je höher die Qualität des Materials, desto höher ist die resiliente Spannkraft. Heute wird der Begriff genutzt, um darzustellen wie Lebewesen, ökonomische und andere Systeme mit erheblichem Druck von außen umgehen, sich selbst behaupten und regulieren können.


Und übertragen auf den Menschen…?

…bedeutet Resilienz, dass jemand zahlreiche Qualitäten in sich trägt, sodass er über eine resiliente Spannkraft verfügt. Wer förderliche innere Stärken, Ressourcen und mentale Strategien in sich vereint, ist fähig, nach äußeren Einwirkungen oder Störungen wieder in seinen mentalen "Originalzustand" zurückzufinden. Allerdings ist Resilienz etwas sehr Individuelles. So wie Materialien sich völlig unterschiedlich verhalten, so ist das beim Menschen auch. Jeder hat seinen eigenen Weg, um in seinen persönlichen Ursprungszustand zurück zu finden. Das heißt, ein wichtiger Schritt ist es, die individuelle Strategie herauszufinden. Für eine resiliente und gesunde Lebensqualität ist es wichtig, Möglichkeiten zu finden sich gekonnt „selbst zu führen“. Wer dabei seine innere Stabilität und Flexibilität trainiert, sorgt automatisch für hohe Resilienz.


(...)


Gibt es nicht Menschen, denen das von Natur aus leichter fällt als anderen?

Es stimmt, dass es Menschen gibt, die mit einem Resilienz-freundlicheren Gehirn ausgestattet sind. Wer das allerdings nicht nutzt, wird davon auch nicht profitieren. Es wurde sehr lange geglaubt, dass Resilienz ausschließlich angeboren ist und nicht jeder über diese Fähigkeit verfügt. Das stimmt nicht. Resilienz ist bereits in jedem von uns angelegt und trainierbar. Du hast als Kind auch das Laufen gelernt, bist immer wieder hingefallen und hast dann gemerkt, „tut weh, alles klar, ich mache es irgendwie anders“. Das ist schon der erste Schritt.


Ich gehe also nicht nur durch die stürmische Zeit durch…

…sondern ich lerne auch daraus und nehme etwas mit, was mich im zukünftigen Leben bereichert. Genau darum geht es in der Resilienz. So entstehen aus stürmischen Zeiten sogar ungeahnte neue Möglichkeiten, wenn man alles nutzt, was man kontinuierlich in seinen Rucksack packt.


Ich würde gerne zur Resilienz im Unternehmen kommen.

Das Thema ist in zahlreichen Unternehmen angekommen. Hier ist das Wort "Resilienz" inzwischen fast schon Buzz-Word und der wirkliche Nutzen kommt häufig nicht ins Sichtfeld. Einige belassen es aber nicht dabei und sind auf der Suche nach neuen Möglichkeiten. Aufgrund der Digitalisierung haben viele Unternehmen zwar erkannt, dass ein Denken und Handeln in alten Mustern nicht mehr funktioniert, aber sie haben Schwierigkeiten mitzuhalten. In der heutigen VUCA Welt sind die Chancen, dass etwas ins Ungleichgewicht gerät, sehr groß. Zudem ist vieles immer weniger vorhersehbar und mehrdeutig. Die Not zu handeln ist groß.

 

Resilienz. Die Fähigkeit eines Systems, Störungen zu absorbieren und dennoch die grundlegende Funktion, Struktur und Feedbacksysteme zu erhalten. Ein resilientes System funktioniert weiter, unabhängig davon, wie schwer es durch äußere Einflüsse erschüttert wird. Idealerweise wird es dadurch sogar stärker. Julian Birkinshaw, London Business School Professor für Strategie und Entrepreneurship, unterscheidet drei Typen von Resilienz [1]:

  1. Persönliche Resilienz: Fähigkeit von Mitarbeitern und Führungskräften, schwierigen Umständen über lange Zeiträume gewachsen zu sein.

  2. Operative Resilienz: Fähigkeit einer Organisation, die Kernprozesse (z. B. die Supply Chain) zu erhalten.

  3. Strategische Resilienz: Fähigkeit einer Organisation, Veränderungen im Umfeld wahrzunehmen, darauf zu reagieren und für Kunden von bleibender Relevanz zu sein.

 

Und jetzt haben wir die aktuelle Ausnahmesituation…

Die Bedeutung der Resilienz wird jetzt erst klar, denn hier passiert etwas, dass sich bisher niemand vorstellen konnte. Die globale Pandemie COVID-19 schwingt die Keule über die gesamte Wirtschaft, Politik, Gesundheits- und Sozial-Systeme. Es geht um die Resilienz all dieser Bereiche. Für Unternehmen hat es eine enorme Tragweite. Eine Liquiditäts- und Existenzkrise zwingt zum schlagartigen Handeln und beinhaltet unglaublich viele Anforderungen. Die größte Einsicht mag sein, dass der "Unternehmenswert" Mensch und das Thema Digitalisierung gekonnt verknüpft werden müssen – in einer unvorhersehbaren Geschwindigkeit, die vorher durch theoretisches Denken, Diskutieren und dem Festhalten an Altbewährten behindert wurde. Alte Herangehensweisen funktionieren nicht mehr. Auch Denkweisen wie, "Wir entscheiden uns für das Eine oder das Andere" kommen ins Wanken. In dieser neuen Arbeitswelt kommt zusätzlich die Individualität zum Tragen und das beinhaltet die Entscheidungsfähigkeit für "Sowohl das Eine als auch das Andere" – eine wichtige Kompetenz der Resilienz.


Die Menschen in Unternehmen befinden sich in einem extremen Spannungsfeld…

Unterschiedliche Wertesysteme prallen jetzt regelrecht aufeinander. Auf der einen Seite steht ein Hierarchiesystem, das einen klaren Rahmen vorgibt, in dem Entscheidungen auf den Führungsebenen getroffen werden und die Verantwortung auch dort übernommen wird. Klare Ansagen werden hier von den Mitarbeitern erwartet. Auf der anderen Seite steht das flexible Modell der agilen Arbeitswelt. Hier organisiert sich das Team selbst und übernimmt im gleichen Maße Verantwortung und trifft Entscheidungen. In der aktuellen Situation haben beide Seiten etwas gemeinsam: Für sie besteht der absolute Ausnahmezustand. Viele finden sich in der neuen Umgebung "Home Office" wieder. Ein Umfeld das mehr Herausforderungen bringt als gedacht. Ad Hoc fehlen die "realen" zwischenmenschlichen Kontakte. In einigen Unternehmen wird aktuell ausschließlich digital kommuniziert und gearbeitet, etwas das zum Beispiel für einen Außendienst undenkbar war, da für den Vertrieb Kundennähe und Emotionen eine wichtige Rolle spielen. Umdenken zu können und gleichzeitig handlungsfähig zu bleiben sind hier die resilienten Schlüsselkompetenzen.


Ist Resilienz jetzt auch besonders wichtig für Führungskräfte?

Ja! Denn viele Führungskräfte geraten jetzt in eine regelrechte Krise. Sie müssen einerseits für Klarheit sorgen und gleichzeitig sehr viel Verantwortung in die Teams im Home Office weitergeben. Sie sollen auf der einen Seite Orientierung und Sicherheit vermitteln als auch loslassen und vertrauen können. Führungskräfte sollen Vorbilder sein, nur wie soll das gehen, wenn eigene Ängste vor Kontrollverlust und einer digitalen Unsicherheit vorherrschen? Zudem ist die weitere Herausforderung, dass Teams nur auf Distanz geführt werden können. Mit der aktuellen Situation sind viele Führungskräfte überfordert. Es gibt Unternehmen, die sich darüber im Klaren sind und ihnen Coaches zur Seite stellen.


Worum geht es nun bei der Resilienz in dieser Situation?

Es geht darum, die innere Stabilität zu bewahren und gleichzeitig auch eine Flexibilität im Denken und Handeln aufzubauen, sprich die Fähigkeit, sich immer wieder auf etwas Neues einlassen zu können. Dazu gehört zum Beispiel auch zwischen komplett unterschiedlichen Führungsparadigmen springen zu können.


Sie haben gerade zwei Schlüsselbegriffe der beidhändigen Führung erwähnt.

Gleichzeitige Stabilität und Flexibilität im eigenen Denken und Handeln – widerspricht sich das nicht eigentlich? Nein. Das ist ja gerade das Spannende bei Resilienz. Wenn Führungskräfte fähig sind, flexibel denken, handeln und reagieren zu können und dabei trotzdem eine innere Stabilität bewahren, dann hat ein Unternehmen in Zeiten des Wandels bereits viel gewonnen.


(...)


*** Auszug aus dem Gespräch von Ende April 2020 ***

 

Der Text ist ein Auszug aus dem Buch "Beidhändige Führung", erschienen in der 2. Auflage 2020 im Springer Verlag.


Das vollständige Interview lesen Sie im Fachbuch Beidhändige Führung.


Link zur Webseite von Karin Pahl


 

Quelle:

[1] Birkinshaw, Julian (2020): „Coping with a pandemic: from strategic agility to resilience“. London Business School Pandemic Webinars. Online unter https://www.london.edu/campaigns/executive-education/pandemic-webinars#previouswebinars.

bottom of page